Die Prussia-Sammlung im Museum für Vor- und Frühgeschichte Berlin

Reidentifizierung

Auferstanden aus der "Totenstadt": Wikingerzeitliche Funde aus Linkuhnen, Kr. Niederung

Im Rahmen des DFG-Projektes widmet sich eine spezielle Untersuchung dem forschungsgeschichtlich bedeutsamen Fundplatz von Linkuhnen in der Memelniederung (heute Rževskoe, Russ. Föderation). Bis 1945 waren dort in verschiedenen Grabungskampagnen, an denen so bedeutende ostpreußische Archäologen wie Herbert Jankuhn, Carl Engel, Kurt Voigtmann und Wolfgang La Baume beteiligt waren, fast 500 Gräber der Römischen Kaiserzeit, der Völkerwanderungszeit sowie der Wikingerzeit entdeckt worden.


(Linkuhnen, Kr. Niederung: Grabungskampagne Herbert Jankuhn im Oktober 1928. Foto: Archiv MVF Berlin)

Die Nekropole gilt seit langem als wichtiges, chronologisches Bindeglied zwischen der mittleren und späten Eisenzeit im Westbaltikum und wurde möglicherweise auch nach dem 5./6. Jahrhundert kontinuierlich bis ins 11./12. Jahrhundert weiterbelegt.
Nach Angaben des Ausgräbers Carl Engel bestand das Gräberfeld aus vier, unterschiedlich tiefen Schichten oder „Stockwerken“, die er als zeitliche Abfolge in der Gräberfeldbelegung ansah. Vor allem die wikingerzeitlichen Bestattungen, unter denen sich anscheinend viele Doppelgräber von Frauen und Männern befinden, wiesen einen außergewöhnlichen Beigabenreichtum auf. Carl Engel verglich die Struktur der Nekropole mit den Katakomben des frühchristlichen Roms und sprach von der „Totenstadt von Linkuhnen“.


(Grab 25 des Gräberfeldes von Linkuhnen; Grabung 1929. Foto: Archiv MVF Berlin)

Schmuckausstattungen aus Hals-, Arm- und Fingerringen, Fibeln, Nadelschmuck und Kettengehängen stehen Waffeninventare mit mehreren Schwertern, Lanzenspitzen sowie Reitzubehör gegenüber. Unter den Schwertern befindet sich eine erstaunlich hohe Anzahl von Klingen mit ULFBERTH-Inschriften, dem „Markennamen“ einer rheinischen Waffenschmiede des 9./10. Jahrhunderts. Aufgrund der herausragenden Qualität dieser Waffen existierten zahlreiche zeitgenössische Plagiate dieser Klingen. In Linkuhnen lassen sich vermutlich sowohl Original und Fälschung nachweisen; sie können als Importe aus West- und Mitteleuropa gelten. Vor allem die zahlreichen Waffenfunde aus den Gräbern von Linkuhnen veranlassten die Archäologen vor 1945 dazu, ein starkes wikingisches Element unter der Bestattungsgemeinschaft von Linkuhnen zu vermuten.


(Waffenbeigaben im Gräberfeld von Linkuhnen. Nach C. Engel 1931)


(Kreuzförmige Scheibenfibeln aus Linkuhnen. Foto: C. Plamp)

Im Berliner Bestand der Prussia-Sammlung können bisher 158 Objekte dem Fundplatz Linkuhnen zugewiesen werden: über ein Drittel dieses Bestandes resultiert aus Fundreidentifizierungen, die durch die bisherige Arbeit des DFG-Projektes ermöglicht wurden.


(Tauschierter Schwertgriff aus Grab 53 von Linkuhnen. Nach La Baume 1941)


(Tauschierter Schwertgriff aus Grab 53 von Linkuhnen. Aufnahme nach 1929. Foto: MVF Berlin)


(Reidentifizierter Schwertgriff aus Grab 53, heutiger Zustand).

Ein in Arbeit befindlicher kommentierter Fundkatalog, der archäologische Objektinformationen, bisherige Literaturangaben und zahlreiche archivarische Quellen kombiniert, wird eine neue Grundlage für die chronologische und kulturhistorische Einordnung des Fundplatzes Linkuhnen liefern.

(Norbert Goßler)

Altfundbestände aus dem nördlichen Samland: das Beispiel Kirtigehnen

Im Rahmen der exemplarischen Auswertung von Altfundbeständen der Prussia-Sammlung in Berlin wurden aus dem nördlichen Samland (heute Oblast Kaliningrad, Russ. Föderation) die Gräberfelder von Kirtigehnen, Rauschen-Kobjeiten, Pokirben, Pokalkstein und Regehnen ausgewählt. Teilweise handelt es sich um heute in der Forschung weitestgehend vergessene Fundkomplexe mit einstmals je 300-400 Bestattungen aus dem Zeitraum von der Römischen Kaiserzeit bis ins Mittelalter. Ziel dieser Studie ist es, die Grabfunde der genannten Nekropolen anhand archäologischer und archivarischer Quellen vorzulegen, wobei Daten zu den erhaltenen Objekten mit den Angaben der Literatur vor 1945 und archivarischen Informationen unterschiedlichster Herkunft in einem kommentierten Fundkatalog zusammenfließen.

Im Fall von Kirtigehnen wurde dabei zunächst die Beschriftung der mit Funden aus dem Gräberfeld erhaltenen Pappen ausgewertet, sie lässt vermutlich auf die ehemalige Zusammengehörigkeit zu Grabinventaren schließen.


(Pappe mit mittelalterlichen Funden aus Kirtigehnen. Foto: C. Plamp)

Da manche Fundinventare heute nur lückenhaft erhalten sind, wurden sie mit den archivalischen Aufzeichnungen von Felix Jakobson, Martha Schmiedehelm, Kurt Voigtmann und Rudolf Grenz verglichen und teilweise ergänzt.


(Kaiserzeitliche Fibel aus Kirtigehnen in der Zeichnung von Felix Jakobson und im erhaltenen Original)

In den Unterlagen der genannten Forscher sind darüber hinaus weitere Funde überliefert, die heute vollkommen verloren sind.


(Beschreibung eines Sprossenfibelpaares aus Kirtigehnen in der Fibelkartei von Kurt Voigtmann)

Der Fundplatz Kirtigehnen gehört zu den zahlreichen Gräberfeldern des Samlandes, die eine zweiphasige Belegung erkennen lassen, nämlich in der Römischen Kaiserzeit sowie der Völkerwanderungszeit einerseits, und im Mittelalter andererseits. Auffallend in der Benutzung des Gräberfeldes ist der zeitlicher Hiatus zwischen der späten Völkerwanderungszeit, also dem 6./7. Jh. n. Chr., und dem Zeitabschnitt vom 11. bis zum 13. Jahrhundert. Funde, die sich schwerpunktmäßig der Wikingerzeit (8.-10. Jh.) zuweisen lassen, fehlen bisher weitestgehend.
Innerhalb der archäologischen Forschung Ostpreußens vor dem 2. Weltkrieg, aber auch danach standen Kirtigehnen und seine Funde bisher im Schatten bekannterer Gräberfelder. In der „Urgeschichte Ostpreußens“ von W. Gaerte aus dem Jahr 1929 wird der Fundplatz nur einmal erwähnt; schon die archäologische Landesaufnahme von E. Hollack von 1908 kennt den Fundplatz, widmet ihm aber nur vier ganze Zeilen, während andere Fundorte deutlich länger abgehandelt werden.


(Sprossenfibelpaar des 6./7. Jahrhunderts aus Kirtigehnen. Nach Gaerte 1929)

Die Altfunde von Kirtigehnen und ihre Fundüberlieferung lassen zwei von einander räumlich getrennte Gräberfeldareale vermuten, beide liegen ungefähr 500 m vom historischen Ortskern entfernt


(Lageskizze der Notgrabung 1927 durch W. Gaerte mit mittelalterlichen Befunden aus dem Grenz-Archiv, Schleswig).

In der Berliner Prussia-Sammlung lassen sich heute noch 29 Fundkomplexe mit ganz unterschiedlichen Objektzahlen dem Fundplatz zuordnen, davon sind 20 Komplexe mit insgesamt 37 Objekten der Römischen Kaiserzeit bzw. Völkerwanderungszeit zuzuordnen, während dem Mittelalter neun Komplexe mit 39 Funden angehören. Aus der leider nur sehr eingeschränkten archivalischen Überlieferung zu Kirtigehnen im rekonstruierten Prussia-Sammlung am MVF sowie den Angaben der Literatur vor 1945 lässt sich jedoch erschließen, dass einstmals deutlich mehr Funde aus Kirtigehnen vorlagen, heute jedoch verschollen sind. Über die genaueren Umstände der Ausgrabungen vor 1945 sowie den dabei beobachteten Befunden berichten die archivalischen Quellen sehr wenig. Lediglich von einer Notgrabung aus dem Jahr 1927 erfahren wir, dass offenbar zehn Brandgrubengräber mit Steinabdeckung und jeweils zugehöriger Pferdebestattung aus dem 11.-13. Jahrhundert geborgen wurden.

(Norbert Goßler)

Altfundbestände aus dem nördlichen Samland: das Beispiel Regehnen

Regehnen (heute Dubrowka, Russ. Föderation) stellt den südlichsten Punkt des Arbeitsgebietes in der Gegend um Rauschen dar und liegt etwa 8 km südlich der Ostseeküste, westlich der Eisenbahnlinie Königsberg-Neukuhren und ist eine kleine Ortschaft mit wenigen landwirtschaftlichen Höfen. Die Gründung des Ortes Regehnen lässt sich auf das Jahr 1387 zurückverfolgen. Bemerkenswert ist die lange Belegungszeit des Gräberfeldes, das (mit Überlieferungslücken) von der Jüngeren Bronzezeit bis in das Spätmittelalter genutzt wurde.


(Der Fundort Regehnen mit den Fundstellen I und II, Grabungen zwischen 1884 und 1938)

Unter der Ortsangabe Regehnen sind zwei Fundstellen zu verstehen, die sich südlich und westlich der eigentlichen Ortschaft befinden und etwa 1,5 km voneinander entfernt liegen. Dabei handelt es sich um zwei Gräberfelder (Regehnen I und II), die jeweils Funde der Bronze- und Eisenzeit, sowie der Römischen Kaiserzeit und des Mittelalters aufweisen (Regehnen II auch Völkerwanderungszeit), deren Ausdehnung und Beziehung zueinander jedoch unklar bleiben. Durch umfangreiche neuzeitliche Steinentnahmen sind die Grabhügel in erheblichem Maße abgebaut und zerstört worden. Beide Fundstellen wurden nur in kleineren Fundmeldungen oder Objektstudien erwähnt, die Funde und Befunde aber bis heute weder vorgelegt noch ausgewertet. Aus den in Berlin überlieferten Funden und den Beschreibungen in der Literatur und den Archivalien ergibt sich ein Ausblick auf etwa 77 ergrabene Bestattungen mit über 500 Beigaben. W. Gaerte bezeichnete das Gräberfeld von Regehnen in einem Zeitungsbericht vom 26. Juni 1936 als „eines der größten samländischen Gräberfelder mit einer durchgehenden Belegung von der Bronzezeit bis in das Mittelalter“. Dabei hatte er vermutlich die umfangreichen Zerstörungen und erkennbaren Verluste von Regehnen II vor Augen.

Die Fundmeldungen und Ausgrabungen in Regehnen umfassen einen Zeitraum von 1883 bis 1938 und lassen sich für beide Fundstellen meist deutlich unterscheiden. Die Grabungen führte zunächst die Prussia-Gesellschaft durch, später das Prussia-Museum bzw. das Landesamt für Vorgeschichte. Dazu kommen die Fundmeldungen von Einzelfunden durch verschiedene Privatpersonen. Die Untersuchungen konzentrierten sich zunächst auf die Fundstelle Regehnen I, für die sich Aktivitäten in den Jahren vor 1883, 1884-1887 und 1913 rekonstruieren lassen. Umfangreiche Ausgrabungen an der Fundstelle Regehnen II wurden in den Jahren 1936 und 1938 vorgenommen.


(Einzelfunde aus der Fundstelle Regehnen I, eingeliefert in das Prussia-Museum 1883. Foto: C. Plamp)

In der Prussia-Sammlung im Berliner-Museum für Vor- und Frühgeschichte existieren heute noch 86 Funde aus Regehnen. Die verfügbaren Archivinformationen deuten darauf hin, dass alle erhaltenen Objekte der Fundstelle Regehnen I zuzuordnen sind und im Zeitraum zwischen 1883 und den 1930er Jahren an das Prussia-Museum in Königsberg gelangt sind. Die Funde datieren überwiegend in die Römische Kaiserzeit (76 Stück), der geringere Teil lässt sich dem Mittelalter zuweisen (10 Stück). Von den bronzezeitlichen und eisenzeitlichen Objekten sind in Berlin keine Stücke überliefert und nur vereinzelt in der Literatur nachweisbar.


(Römische Münze - AE I [Hadrian?], Einzelfund aus Regehnen I vor 1883. PB 9, 1884, 191; S. Bolin, PB 26, 1926, 216 Nr. 50)

Regehnen stellt ein typisches Beispiel für die Überlieferungsproblematik der Prussia-Sammlung dar: es gilt den relativ spärlichen Niederschlag der Ausgrabungen in Regehnen in der archäologischen Literatur und die fragmentarische Überlieferung in den Ortsakten mit den unvollständig überlieferten Funden in Einklang zu bringen. Erst die Kombination der verfügbaren Quellen ermöglicht es, den Kontext der überlieferten Objekte zu rekonstruieren und ein aussagekräftiges Bild der archäologischen Situation in Regehnen entstehen zu lassen.


(Einzelfunde aus Regehnen I. Aufzeichnungen von H. Jankuhn, vermutlich Ende der 1920er Jahre)

Südlich der Ortschaft Regehnen (Regehnen I) finden sich Hinweise auf Hügelgräber der jüngeren Bronzezeit. Funde aus 12 Grabhügeln der Eisenzeit (1. vorchristliches Jahrtausend) und der römischen Kaiserzeit (Grab XIIc) wurden während der Grabung des Jahres 1884 geborgen. In diesem Hügelgräberfeld mit Brandbestattungen in Urnen und Steinsetzungen (Steinkammern und Steinpflaster) finden sich in der Römischen Kaiserzeit auch Hinweise auf Bestattungen mit Pferdeteilen. Aus diesem Teil stammen auch die erhaltenen mittelalterlichen Funde (Einzelfunde)


(Schildbuckel Grab XIIc, Regehnen I. Aufzeichnungen von H. Jankuhn, vermutlich Ende der 1920er Jahre)

Die Grabung im Jahre 1887 bringt weitere 22 Grabhügel (Durchmesser 3,20 – 7,00 m) mit mehrschichtigen Steinlagen und Einfassungen durch konzentrische Steinkreise. Auch wenn keine Funde dieser Kampagne erhalten sind, so dürften die Brandgräber anhand der Beschreibungen in die ältere römische Kaiserzeit zu datieren sein.


(Gräberfeldplan Regehnen I, Grabung 1887. Die Grabungsfläche schließt nördlich an die Grabung von 1884 an. PB 14, 1889 Taf. 6)

Im westlichen Teil von Regehnen (Regehnen II) sind die ältesten Bestattungen (Urnen in Hügelgrab) in die jüngere Bronzezeit/frühe Eisenzeit zu datieren, die Nachbestattungen in der Hügeldecke und am Rande des bronzezeitlichen Grabhügels gehören an das Ende der Latènezeit. Die Grabungen 1936 und 1938 erbrachten Skelettgräber sowie Brandgräber der älteren Kaiserzeit und Urnengräber und Brandschüttungsgräber der jüngeren Kaiserzeit, außerdem Brandgruben der Völkerwanderungszeit. Häufig treten Steinsetzungen als Pflaster oder als mehrlagige Steinpackungen auf. Mittelalterliche Funde werden im Grabungsbericht erwähnt, sind jedoch nicht überliefert und lassen sich keinem archäologischen Kontext zuweisen.
Ausgehend von den ausgegrabenen Flächen in Regehnen II finden sich die ältesten Gräber im Kern des Friedhofs, die jüngeren jeweils nach Norden und Westen anlagernd. Das frühgeschichtliche Gräberfeld schließt sich westlich an die bronzezeitlichen Grabhügel an und erstreckt sich nach Westen bis Tolklauken. Oberflächenbegehungen zeigen weitere Keramikfunde, das Gräberfeld konnte nur partiell ausgegraben werden.
Der Fundort Regehnen zeigt eine bemerkenswert lange, stufenübergreifende Nutzung der Nekropole, auch wenn sich die Belegung nicht für alle Zeitstufen lückenlos nachweisen lässt . In der weiteren Bearbeitung wird sich zeigen, ob sich die verschiedenen Bestattungssitten nicht nur in der räumlichen Verteilung, sondern auch chronologisch weiter differenzieren lassen.

(Christoph Jahn)

Die Region um Rauschen im nördlichen Samland

Die Gegend um Rauschen, Kr. Fischhausen (heute Swetlogorsk, Oblast Kaliningrad, Russ. Föderation) im nördlichen Samland ist Gegenstand einer regionalen Studie, die im Wesentlichen drei Ziele verfolgt: zum einen versucht diese exemplarische Auswertung von Altfundbeständen ausgewählter Fundorte die Grabungsaktivitäten der Prussia-Gesellschaft und des Prussia-Museums in dieser Region zu rekonstruieren und mit den in Berlin erhalten Objekten zu vergleichen. Da es sich hierbei fast ausschließlich um Grabfunde handelt, soll zweitens versucht werden, die Bestattungssitten in einer eng umgrenzten Kleinregion nachzuzeichnen. Die Vorlage der bis heute weitestgehend unpublizierten Fundkomplexe kann somit drittens die aktuellen Baumaßnahmen und archäologischen Untersuchungen in der Gegend des heutigen Swetlogorsk ergänzen.


(Die behandelten Fundorte in der Region um Rauschen im nördlichen Samland)

Gegenstand der Untersuchung sind die Gräberfelder von Rauschen/Kobjeiten, Kirtigehnen, Pokirben, Pokalkstein und Regehnen an der nördlichen Ostseeküste des Samlands in einem Gebiet von 7 x 4 km Ausdehnung. Auch wenn keines der Gräberfelder vollständig ausgegraben oder dokumentiert worden ist, so ist doch jeweils von einer Belegung mit 300-400 Bestattungen auszugehen. Auffällig ist die lange Belegungsdauer der Gräberfelder. Für alle Fundorte lässt sich eine Nutzung in der Römischen Kaiserzeit und im Mittelalter nachweisen, teilweise auch für die Bronzezeit, die vorrömischen Eisenzeit und die Völkerwanderungszeit.
Die Bearbeitung dieser Fundorte zeigt die typische Problematik beim Umgang mit den Beständen der Prussia-Sammlung aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: keines der hier behandelten Gräberfelder wurde vor dem Krieg vorgelegt oder ausgewertet. Wenn überhaupt haben nur einzelne Objekte oder Fundensembles Eingang in die Literatur gefunden. Erst die kombinierte Auswertung des in Berlin erhaltenen Objektbestandes und der Aktenüberlieferung ermöglicht eine Rekonstruktion der Grabinventare und der Bestattungsweise. Somit lässt sich für die meisten Fundorte eine „Verlustliste“ erarbeiten, die verdeutlicht, wie groß die Diskrepanz zwischen der Menge der ausgegrabenen Stücke und den heute in Berlin erhalten Objekten ist. Betrachtet man z. B. die unveröffentlichten Grabungsbrichte aus dem Gräberfeld von Rauschen/Kobjeiten, so wird ersichtlich, dass bis zum Jahre 1930 dort mindestens 399 Gräber geborgen worden sind, teilweise mit umfangreichen Grabbeigaben (zahlreiche Pferdebestattungen mit Reitzubehör).


(Die Grabungen des Flachgräberfeldes an der Straße Rauschen-Kobjeiten. Im nördlichen Teil befinden sich die Gräber der Frühen und Späten Völkerwanderunszeit = Stufen D und E, im südlichen Teil die Bestattungen der Frühen und Späten Römischen Kaiserzeit = C und B, teilweise überlagert von den mittelalterlichen Gräbern = F-J)

Der ursprüngliche archäologische Objektbestand aus dem Gräberfeld von Rauschen/Kobjeiten dürfte in einer Größenordnung von ca. 2.000 Stück gelegen haben. Dem steht heute ein erhaltenes Objekt im Berliner Bestand der Prussia-Sammlung gegenüber.


(Lanzenspitze des 11.-12. Jh. aus dem Gräberfeld von Rauschen-Kobjeiten, Einzelfund. Zeichnung: C. Hergheligiu)

Ungeachtet dieser Verluste lässt sich mit Hilfe der Ortsakten ein aussagekräftiges Bild von Umfang, Inhalt und Bedeutung des Gräberfeldes von Rauschen/Kobjeiten zeichnen. So sind detaillierte Beschreibungen von etwa 250 mittelalterlichen und kaiserzeitlichen Gräbern aus dem Südteil des Gräberfeldes erhalten.


(Rekonstruierter Gräberfeldplan aus dem Südteil des Gräberfeldes von Rauschen-Kobjeiten mit Gräbern der Römischen Kaiserzeit und des Mittelalters)

Berücksichtigt man alle behandelten Gräberfelder in dem räumlich begrenzten Untersuchungsgebiet, so wird die außerordentliche Funddichte kaiserzeitlicher und mittelalterlicher Gräberfelder im Samland deutlich.

(Christoph Jahn)

Wieder gefunden: ein Helmfragment aus Ekritten

Seit Januar 2013 läuft die zweite Phase der Objekterfassung im DFG-Projekt „Das Baltikum im 9. bis 15. Jahrhundert n. Chr.“: nachdem zunächst die Bestände mit noch bekannten Fundorten aufgenommen wurden, stehen nun die zahlreichen Objekte ohne Fundortzuweisung (sog. Pr-Nummern) im Mittelpunkt der aktuellen Erfassung.
Ziel der Arbeit ist es unter anderem, den ursprünglichen Fundzusammenhang möglichst vieler Objekte wiederherzustellen. Dabei helfen z. B. Fotos oder Zeichnungen der Altfunde in der archäologischen Literatur vor 1945. Auf diese Weise gelang auch die spektakuläre Reidentifikation eines der wenigen mittelalterlichen Helmfunde im Baltikum.


(Ekritten, Kr. Fischhausen - Helmzustand 1939. La Baume, Nachrichtenbl. Dt. Vorzeit, 15, 11/12, 1939 Taf. 79).

Im samländischen Ekritten war bei Grabungen im Jahr 1939 ein reich ausgestattetes Kriegergrab des 11. Jahrhunderts aufgedeckt worden, das unter anderem mehrere silbertauschierte Lanzenspitzen, Reitzubehör und einen kegelförmigen Helm enthielt, der ursprünglich vermutlich sogar einen Helmbusch besaß. Die Helmkalotte bestand nach Wolfgang La Baume aus vier trapezförmigen, mit Bronzeblech verkleideten Eisenplatten, die an ihren Längskanten überlappend miteinander vernietet und durch ein schmales, mit Buckelchen besetztes Bronzeband verziert waren.


(Heutiger Zustand der Helmfragmente von Ekritten, Kr. Fischhausen - erhaltene Höhe: 22 cm).

Unter den zahlreichen fundortlosen Fragmenten des Berliner Prussia-Magazins fand sich nun ein trapezförmiges Bronzeblech mit ankorrodiertem Eisen, Nieten und dem Rest eines ehemals gebuckelten Saumes (im Bild oberes Fragment). Der Vergleich mit der 1940 erstellten Rekonstruktion des Helmes aus Ekritten zeigt, dass es sich um ein Segment der verloren geglaubten Helmkalotte handeln muss. Eine alternative Deutung als Fragment einer romanischen Bronzeschale ist aufgrund der Form und der anhaftenden Eisenreste unwahrscheinlich. Einige Wochen später tauchte an einer anderen Stelle der Prussia-Sammlung ein weiteres Blechstück auf (im Bild unteres Fragment), das ohne Weiteres an das erste Helmfragment anzupassen ist. Auf diese Weise lässt sich nun ein fast vollständiges Helmsegment rekonstruieren. Hier zeigt sich erneut, wie wichtig die systematische Bearbeitung der Prussia-Sammlung ist, um verloren geglaubte Objekte für die archäologische Forschung wiederzugewinnen.


(Rekonstruktion des Helms von Ekritten, Kr. Fischhausen).

Die vorliegende Helmform ist nur zweimal in Ostpreußen belegt: neben Ekritten ist vor allem ein heute verschollener Fund aus der Nekropole Groß Friedrichsberg bei Königsberg zu nennen.


(Helm aus Groß Friedrichsberg, Gaerte 1929, 339 Abb. 273)

Er zeigt einen sehr ähnlichen Aufbau und war ursprünglich sogar vergoldet. Ähnliche Helmformen sind auch aus Litauen bekannt. Die Vorbilder dieser Helme weisen in den russischen Bereich und zeugen vom großen Einfluss des Reiches der Kiewer Rus’ auf die Bewaffnung im Baltikum und bei den Westslawen.

(Norbert Goßler)

Reidentifizierte Objekte aus Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Rówina Dólna, Polen)

Ein großer Teil der Prussia-Sammlung im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte lässt sich aufgrund der kriegsbedingten Verlagerung weder einem Fundort, noch einer ehem. Inventar-Nummer und somit auch keinem archäologischen Kontext zuweisen. Diese „verwaisten“ Funde sind übergangsweise mit sog. „Pr-Nummern“ versehen worden. Über 7.000 dieser Nummern sind für fundortlose Objekte vergeben worden. Neben zahlreichen neolithischen Steinäxten handelt es sich in der Mehrheit um kaiserzeitliche, völkerwanderungszeitliche und mittelalterliche Funde.



In der Sammlung sind diese Objekte nach typologischen Kriterien vorsortiert worden. Die Frage ist nun, wie man für diese Stücke Herkunft und auch archäologischen Kontext rekonstruieren kann. Eine Möglichkeit besteht darin, diese Problematik vom Bestand der Ortsakten her anzugehen. Exemplarisch ist dies für das Gräberfeld von Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Rówina Dólna, Woiw. Warmińsko-Mazurskie, Polen) versucht worden. Für diesen Fundort liegt eine umfangreiche Ortsakte, sowie zahlreiche erhaltene Fotografien vor.


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Carl Engel 1931, Grab 28, Inv.-Nr. VII,332,12190).


(Fotorückseite mit Fundortangabe, Grabnummer, Grabungsjahr und Inventarnummer).

Mit diesen Fotografien lässt sich nun die Suche nach bestimmten Objektgruppen auf eine überschaubare Menge von Fundkisten gezielt eingrenzen. In diesem Fall ist die Perlenkette im rechten unteren Bildrand identisch mit der Perlenkette mit der Pr-Nummer 2680.


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Carl Engel 1931, Grab 28, Pr 2680 = Inv.-Nr. VII,332,12190).

Von den 104 aus Unterplehnen erhaltenen Objekten konnten auf diese Weise über 30 Objekte mit „Pr-Nummern“ reidentifiziert und dem Fundort Unterplehnen zugeordnet werden. Besonders wertvoll ist es, dass sich dabei meist auch der jeweilige Grabkontext erkennen lässt, sofern diese Informationen auf den Fotos vermerkt sind. Durch die Kombination von Angaben aus Ortsakten, Fotos, Fundzetteln und der Voigtmann-Kartei lässt sich der Umfang der Gräberfeldes von Unterplehen und auch die Grabinventare der ca. 250 Bestattungen Stück für Stück rekonstruieren.
Es werden aber auch die Schäden deutlich, die die einzelnen Objekte durch die Verlagerung erfahren haben.


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 55).

Ortband einer Dolchscheide, der Dolch fehlt.

(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 55).

Gürtelschnalle mit Lederresten, der auf dem Foto sichtbare Beschlag fehlt.

(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 55).


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 26).

Auch bei diesem Gürtelbeschlag sind zwei Niete nicht mehr erhalten.

(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Jaensch 1937, Grab 26).


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Carl Engel 1931, Streufund).


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Carl Engel 1931, Streufund).

Eine weiterer Ausgangspunkt für Reidentifizierungen sind die erhaltenen Karteikarten der sog. Voigtmann-Kartei. Hier sind die Objekte häufig auf Fotos oder Handzeichnungen zu erkennen. Auch hier erhalten die Fundstücke nicht nur ihren Fundort, sondern auch ihren archäologischen Fundkontext zurück.

(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung Voigtmann 1936, Grab XXIX, Fund 36).

Literatur:

N. Goßler/Ch. Jahn, Die archäologischen Untersuchungen am spätmittelalterlichen Gräberfeld und am Burgwall von Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Równina Dolna, pow. Kętrzyński) zwischen 1827 und 1940 – Ein Rekonstruktionsversuch anhand der Materialien im Berliner Bestand der Prussia-Sammlung (ehem. Königsberg/Ostpreußen). Acta Praehist. et Arch. 45, 2013, 217-278.

N. Goßler/Ch. Jahn, Zur materiellen Kultur der Prussen während der Ordenszeit im 14./15. Jahrhundert – Das archäologische Fallbeispiel Burg und Gräberfeld Unterplehnen, Kr. Rastenburg (Równina Dolna, pow. Kętrzyński). Preussenland N.F. 4, 2013, 23–55.

(Christoph Jahn)

Voigtmann-Kartei

Auf der Suche nach Informationen zu einzelnen Objekten aus der Prussia-Sammlung bietet sich in einigen Fällen die sog. „Voigtmann-Kartei“ als Einstieg an. Diese wurde von dem Gymnasiallehrer und späteren Direktor des städtischen Museums Marienburg Kurt Voigtmann (5.6.1881-18.9.1942) im Zuge der Vorarbeiten für seine Dissertation über die damals sog. „masurgermanische Kultur“ in den 1930er Jahren in Königsberg angelegt. Als Teil des Nachlasses von Kurt Voigtmann gelangte sie 1942 in das Fundarchiv des Prussia-Museums/Landesmuseums für Vorgeschichte und 1990 an das Archiv des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin.

Die nach Fundorten sortierte Kartei enthält Informationen zu Objekten aus dem Bestand des Prussia-Museums, zumeist aus Gräberfeldern. Von Bedeutung sind die Angaben zum Fundkontext, sowie Fundzeichnungen und Fotografien. Mit Hilfe der „Voigtmann-Kartei“ lassen sich in einigen Fällen die Zusammensetzung von Grabinventaren, sowie die Lage der Einzelobjekt im Grabkontext rekonstruieren. Erhalten ist heute ein Bestand von Karteikarten in einem Umfang von ca. 1,5 laufenden Metern.


(Unterplehnen, Kr. Rastenburg, Grabung 1936)

(Christoph Jahn)